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Digitalisierung in Deutschland: Wo geht die Reise hin? Martin Schallbruch im Interview

Professor Martin Schallbruch wurde 2002 IT-Direktor des Bundesministeriums des Innern mit besonderem Fokus auf die Digitalisierung und Cybersecurity. Im ersten Teil dieses Interviews berichtete er über die Anfänge und die Entwicklungen bis heute. Im zweiten Teil gibt er einen Einblick in den status quo und einen Ausblick auf die nächsten Jahre. Martin Schallbruch legt vor allem den Fokus auf prozessuale Aspekte der Digitalisierung.


Wie bewerten Sie die bisherige Umsetzung des OZG aus Sicht der Verwaltungen? 

Die besondere Bedeutung des OZG (zur offiziellen Seite des BMI) liegt aus meiner Sicht bei zwei Aspekten. Zum einen bedeutet das OZG einen Paradigmenwechsel: Online-Dienste sind der Normalfall, nicht die Ausnahme. Jede Verwaltung wird jede neue Leistung immer auch mit dem Blick auf die durchgängige Online-Abwicklung konzipieren (müssen).

Zum anderen wird die deutsche Verwaltung durch die OZG-Umsetzung strukturell umgebaut: Die Zusammenarbeit der Behörden – auch verschiedener Länder – wird der Normalfall, digitale Dienste werden an wenigen Stellen entwickelt und in der Fläche genutzt, die kommunalen und Landes-IT-Dienstleister werden gestärkt und wirken zusammen, der Bund macht nicht nur die Gesetzgebung, sondern unterstützt die Kommunen finanziell bei der Implementierung.

Das alles finde ich persönlich fast wichtiger als die Frage, ob diese oder jene Online-Leistung in diesem oder jenem Jahr durchgängig digital abgewickelt werden kann.

Und aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger?

In der Möglichkeit der Nutzung digitaler Dienste der Behörden hat sich in den letzten drei Jahren viel getan, gerade im letzten Jahr während der Pandemie. Deutschland arbeitet sich langsam an den EU-Durchschnitt heran, was die Nutzung digitaler Behördendienste angeht – leider liegen wir aber immer noch auf den hinteren Plätzen.

Vieles, was die Behörden in der OZG-Umsetzung hinsichtlich der Nutzerkonten oder Portale in Digitalisierungslaboren erarbeitet haben, ist einfach noch nicht in der Fläche angekommen.

Wie bewerten Sie die Fortschritte bei der digitalen Identität in der Interaktion zwischen Behörde und Bürger?

Die digitale Identität ist eine Schlüsselfrage für die Digitalisierung – sowohl bei den öffentlichen Diensten wie auch bei den privaten Geschäftsmodellen. Anders als in anderen europäischen Ländern – z.B. in Skandinavien – steht in Deutschland bislang keine einheitliche digitale Identität zur Verfügung, die für Bankgeschäfte, Behördenangelegenheiten und Einkäufe gleichermaßen genutzt werden kann.

Wir haben das Risiko, dass die eID-Angebote von Facebook, Google, Amazon und Apple weiter verbreitet sind als europäische Identitätslösungen. Die Bemühungen der Bundesregierung, ein einheitliches eID-Ökosystem zu schaffen, sind sehr zu begrüßen.

Ein großer Schritt nach vorne ist der Vorschlag der EU-Kommission, allen Bürgerinnen und Bürgern in Europa ein interoperables digitales Wallet zur Verfügung zu stellen, also eine selbstverwaltete App auf dem Smartphone, die auch die großen Online-Plattformen als Mittel einer digitalen Identifizierung akzeptieren müssen.

Welche Fragen bestimmen die nächsten Jahre der Digitalisierung?

Digitale Identitäten, Cloud-Dienste, Cybersicherheit sind die großen Themen. Die digitalen Identitäten hatte ich schon genannt. Bei den Cloud-Diensten wird es darum gehen, ob es Europa gelingt, eigene Wettbewerber neben die großen Plattformanbieter wie AWS, Google, Microsoft, Alibaba zu setzen.

Gerade im Hinblick auf die Nutzung von künstlicher Intelligenz kommt der Existenz wettbewerbsfähiger europäischer Cloud-Plattformen eine große Bedeutung zu. Bei der Cybersicherheit liegt für mich der Schwerpunkt bei zwei Themen: der Supply Chain Security, also Instrumenten zur Absicherung der gesamten (digitalen) Lieferkette, sowie einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen Staat und Wirtschaft.

Für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung sehe ich vor allem die strukturellen Fragen als bestimmend an: wir werden zu noch mehr gemeinsamem Handeln der öffentlichen Einrichtungen, zu größeren Strukturen, zur Konsolidierung der Leistungserbringung kommen müssen – auch um die Abhängigkeit von privaten Anbietern zu beherrschen.

Welche Kompetenzen sind dafür gefordert, um die Digitalisierung in der Verwaltung zu gestalten?

Im Vergleich zu Wirtschaftsunternehmen erbringen Behörden eine weit höhere Zahl unterschiedlicher Dienstleistungen und nehmen viel mehr verschiedene Aufgaben wahrnimmt. Selbst eine kleine Stadtverwaltung bietet hunderte von verschiedenen Leistungen an. Sie auszugestalten, erfordert eine hohe Digitalkompetenz bei sehr vielen Mitarbeitenden der öffentlichen Verwaltung.

Gefordert ist vor allem das „middle management“, die Amtsleiterinnen und Amtsleiter auf kommunaler Ebene, die Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleiter in Landes- und Bundesbehörden, die Referatsleitungsebene in den Ministerien.

Wir brauchen zudem in der Verwaltung noch mehr Cybersicherheits-Know-How. Der Ausbau des BSI allein wird nicht reichen, gerade auf Landesebene müssen weitere Kompetenzträger aufgebaut werden, wie derzeit die Cybersicherheitsagentur in Baden-Württemberg. So etwas braucht jedes Bundesland.

Schließlich sehe ich angesichts des Klimawandels die Notwendigkeit, stärkere Kompetenzen in der Katastrophenvorsorge aufzubauen – von der Datenanalyse bis zum Vorhalten von technischen Kapazitäten, um in Katastrophenfällen auch digitale Leistungen schnell bereitstellen zu können.

Welche Rolle spielen dabei privatwirtschaftliche Beratungsunternehmen?

Gerade wegen der geforderten Flexibilität und Agilität einer digitalen Verwaltung, aber auch wegen der stärkeren Kooperation von Staat und Wirtschaft im digitalen Bereich werden Beratungsunternehmen als Know-How-Träger und flexible Personalverstärkung weiterhin eine große Rolle spielen. Entscheidend ist aber, dass die Fähigkeiten zur Steuerung der Digitalisierung, zum Aufsetzen und Führen von Projekten, in der Verwaltung selbst vorhanden ist.

Das können – schon wegen der politischen Verantwortung – die Verwaltungsspitzen nicht an Beratungsunternehmen auslagern. Jede Behörde muss für sich definieren, welche zentralen Steuerungsaufgaben das eigene Personal wahrnehmen kann (das hierfür auch vorhanden und ausgebildet sein muss) und wo sie private Unternehmen zur Verstärkung oder auch zum Abdecken besonderer Qualifikationen hinzuzieht.

Personal ist knapp – was muss getan werden, damit Deutschland die anstehenden Aufgaben erfüllen kann?

Die öffentliche Verwaltung ist auch im Digitalisierungsbereich eine attraktive Arbeitgeberin. Anspruchsvolle Aufgaben für das Gemeinwesen, Vereinbarkeit von Familie und Beruf und hohe Jobsicherheit sind Argumente, die für die Behörden sprechen. Mit dem pandemiebedingten Schub von Homeoffice auch in den Behörden hat sich die Attraktivität noch einmal verbessert.

Dies sollte unbedingt verstetigt werden. Die Leistungsfähigkeit der Behörden hat, von Ausnahmen abgesehen, durch Homeoffice während der Pandemie nicht abgenommen. Defizitär ist allerdings weiterhin die Flexibilität des öffentlichen Dienstes für Jobwechsel. Im Digitalbereich wird niemand mehr ein Leben lang in einer Behörde die gleiche Aufgabe machen wollen. Der Wechsel zwischen den Behörden, aber auch der Wechsel zwischen Behörden und Unternehmen muss wesentlich erleichtert werden.

Die Behörden müssen gerade das Management im Digitalbereich stärker für erfahrene Bewerber aus der Wirtschaft öffnen. Gegebenenfalls auch mit Zeitverträgen zu finanziell deutlich attraktiveren Konditionen.

Herr Schallbruch, vielen Dank für das Interview.


Über den Interviewpartner:

Martin Schallbruch studierte Informatik, Rechts- und Sozialwissenschaften. Nach einer Zeit als Wissenschaftler an der Humboldt-Universität zu Berlin trat er 1998 in den Dienst der Bundesregierung ein.

2002 wurde er IT-Direktor des Bundesministeriums des Innern; später leitete er dort die Abteilung für Informationstechnik, Digitale Gesellschaft und Cybersicherheit.

Seit 2016 war er zunächst stellvertretender Direktor, seit 2020 ist er Direktor des Digital Society Institute der ESMT Berlin. Dort forscht er zu Fragen der Digitalisierungsstrategien, der Cybersicherheit und der Regulierung im Cyberraum.

2018/2019 war Schallbruch Visiting Fellow an der Hoover Institution, Stanford University. Er ist Autor der Bücher „Schwacher Staat im Netz“ und „Cybersecurity in Germany“ sowie Herausgeber des „Praxishandbuch IT-Sicherheitsrecht“.


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Über Cyforwards:
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Bild: Joshua Woroniecki

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