Interview, Public Sector & Government

Zukunft der Polizeiarbeit, Interview mit Stephan Ursuleac

Eine der aktuell wichtigsten Fragen in der Digitalisierung des öffentlichen Sektors dreht sich um die Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS). Der Branchenverband Bitkom e.V. arbeitet dabei mit der Expertise seiner Mitglieder an Antworten.

Im Gespräch mit Cyforwards-Berater Sebastian Menzel (Zum Linkedin-Profil) gibt Stephan Ursuleac, Bereichsleiter Verteidigung & Öffentliche Sicherheit beim Bitkom e.V. (Zum Linkedin-Profil), in zwei Teilen einen Einblick in die Arbeit und Bewertungen seines Verbandes zu den BOS.

Im ersten Teil (hier) ging es um die Rolle von interdisziplinären Ansätzen und die Chancen von Verbund- und Einzellösungen in der Digitalisierung und der Inneren Sicherheit. Im zweiten Teil konzentriert sich das Interview auf konkrete Fragen der Polizeiarbeit im Kontext von Strukturen und Technologie.


Herr Ursuleac, wie verändern sich die Herausforderungen für Polizeibehörden aus Ihrer Sicht?

Die digitale Transformation bietet Chancen, stellt die Gesellschaft und die Sicherheitsbehörden jedoch gleichzeitig vor enorme Herausforderungen. Sie verändert die Kriminalitätsformen der analogen Welt und beeinflusst immer stärker die operative und strategische Arbeit der Polizei.

Über Jahrzehnte in der analogen Welt erprobte Prozesse und Strukturen kommen immer stärker an ihre Grenzen oder erreichen ihre Obsoleszenz. Der technologische Wandel vollzieht sich zudem in immer schnelleren Zyklen und erfordert oft neue Ansätze, Plattformen und Lösungen. Das polizeiliche Gegenüber agiert zunehmend technologisch versierter, agiler, arbeitsteiliger und internationaler. Sicherheitsbehörden müssen sich diesen Gegebenheiten flexibel anpassen, um Schritt halten zu können.

Welche Implikationen hat das für die strategische Ausrichtung?

Dies benötigt eine strukturierte Vorausschau gegenüber neuen Trends und Technologien sowie aktive Hinterfragung aktueller Strukturen und die Fähigkeit, Erkenntnisse schnell und flexibel umzusetzen. Das gelingt nur im gemeinsamen Schulterschluss zwischen Behörden, Wirtschaft und Wissenschaft und der Etablierung eines digitalen Mindsets.

Unsere Projektgruppe „Zukunft der Polizeiarbeit“ erarbeitete mögliche zukünftige Megatrends, die sich für die Polizei ergeben. Dazu zählen die Globalisierung des Verbrechens, die zukünftige Mobilität und Konnektivität der Einsatzkräfte sowie erneut das Thema New Work, verbunden mit dem Aspekt des Human Capitals.

Wo sehen Sie Megatrends?

Durch das Internet der Dinge werden immer mehr Geräte miteinander verbunden, was die Datenmengen stetig erhöht. Bereits heute sind weltweit ca. 40 Milliarden Geräte vernetzt. Es stellen sich technische Fragen nach Speicherkapazitäten, Rechenkapazitäten sowie geeigneter Software zur Auswertung dieser Daten.

Die Infrastruktur muss gleichzeitig mit einem aktiven Wissensmanagementsystem ausgestattet sein. Die eingesetzte Software sollte daher große Datensätze strukturiert und nutzerfreundlich bearbeiten können. Dies erfordert den Aufbau von weiteren Behördenkompetenzen, u. a. in der digitalen Forensik, der Open Source Intelligence (OSINT) und der Analyse von Big Data.

Was bedeutet das für die Vernetzung von Informationen?

Im Zuge der steigenden Konnektivität kommt es in den Städten und Gemeinden der Zukunft zu einer vernetzten Interaktion zwischen Infrastruktur, Sicherheitsbehörden und Bürgerinnen und Bürgern. Polizeibehörden werden sich bei der zukünftigen Mobilität durch autonom fahrende Verkehrsmittel, Drohen und Flugtaxis und einer gesteigerten Anzahl an Sensoren und Kameras mit einer smarten Verkehrs- und Einsatzführung befassen müssen.

Dies geht über „Grüne Wellen“ bei Ampelsystemen hinaus. Vielmehr geht es um ein aktuelles Lagebild, bei dem Einsatzkräfte gezielt in Notsituationen gelenkt werden. Außerdem können die durch die Smart Cities vorhandenen, öffentlichen Informationen zur Verfolgung von Tatverdächtigen genutzt werden. Drohnen, Sensoren oder Maschinen wie der Roboterhund SPOT könnten zur Überwachung von Räumen, z. B. kritischen Infrastrukturen eingesetzt werden. Diese technischen Hilfsmittel können dorthin gelangen, wo es für menschliche Einsatzkräfte zu gefährlich ist oder Such- und Rettungsteams unterstützen. Bereits heute sind über 400 000 private Drohnen und über 25 000 gewerbliche Drohnen in Deutschland erfasst, diese Tendenz wird weiter steigen.

Auch die Präsenz der Polizei im öffentlichen Raum ließe sich damit steigern

Welche Rolle spielt das Trendthema Künstliche Intelligenz?

Dazu wird auch der Einsatz von Künstlicher Intelligenz-Systemen eine Rolle spielen, um die Masse an Daten auszuwerten, Bedienstete zu entlasten und Informationen zu verbinden. Dies ist selbstverständlich mit einer ethischen Debatte verbunden, welche jedoch stets an einzelnen Use Cases geführt werden sollte. Ziel sollte nicht die Schaffung eines Überwachungsstaates sein, sondern die Förderung effektiver und effizienter Sicherheitsbehörden.

Das kann neue personelle Kapazitäten freisetzen, um Polizeiarbeit verstärkt auf die Gemeinschaft zu fokussieren. Die menschliche Interaktion mit lokalen gemeinschaftlichen Stakeholdern kann die Ursache von Kriminalität, z. B. in sozialen Brennpunkten stärker angehen, Vertrauen schaffen und Sicherheitsprobleme gezielter adressieren.

Zusammen mit einem Zukunftsforscher erarbeiten wir noch in diesem Jahr Szenarien für die Polizei 2040. Einzelheiten folgen.

Wie verhält es sich dann aktuell mit der täglichen Arbeit der Sicherheitsbehörden?

Die Sicherheitsbehörden verfügen grundsätzlich über gut ausgebildetes Personal. Die Personaldecke ist jedoch bei Spezialistinnen und Spezialisten im digitalen Bereich sehr dünn. Leider sind auch die Kompetenzen der Fachabteilungen und Führungskräfte bei der Koordination von IT-Projekten, die mittlerweile fast alle Bereiche durchziehen, oftmals nicht vorhanden.

Das Personal muss daher stets aus- und weitergebildet werden. Hier darf ich im Zuge einer Schleichwerbung auf die Angebote der Bitkom-Akademie verweisen.[1]

Wie lässt sich das Personalproblem beheben?

Dabei fällt auf, dass eine Bündelung von Kompetenzen sinnvoll wäre. Die immer stärkere Ausgründung neuer Einheiten für Digitalbereiche in den Sicherheitsbehörden führt zu einem internen Wettbewerb um bereits knappes Personal. Nehmen wir den Cyberkompetenzbereich. Hier agieren hunderte staatliche Stellen und buhlen am Ende um die gleichen Ressourcen.

Selbst in der Wirtschaft fehlen 2023 über 137 000 IT-Fachkräfte und auch die Gegenseite der Sicherheitsbehörden sucht Fachkräfte. Weltweit wurden im Zeitraum 2020 bis 2022 im Darknet über 200 000 Fachkräfte für IT gesucht, wobei Bewerberinnen und Bewerber jedoch stutzig werden sollten, wenn Gehälter steuerfrei in Digitalwährungen angeboten werden.

Wo bieten sich weitere Ansätze zur Steigerung der Effizienz?

Weiterhin haben Sicherheitsbehörden oftmals die Idee alles selbst zu entwickeln. Der Gedankengang ist zunächst logisch. Es handelt sich bei den Bedarfen oftmals um Nischenprodukte mit speziellem Know-how.

Die Idee, alles selbst zu entwickeln, beginnt sich jedoch zu rächen. Softwarelösungen sind keine fertigen Produkte, die einmal gekauft und dann die kommenden Jahrzehnte betrieben werden. Vielmehr sind sie ein ständiger Prozess der Adaption an bestehende Nutzerbedürfnisse und sich verändernde technologische und rechtliche Anforderungen.

In vielen Fällen sind die ursprünglichen polizeilichen Entwickelnden gar nicht mehr im Dienst. Das Resultat sind teilweise nicht mehr zu adaptierende Systeme und teurere Ersatzbeschaffungen. Alternativ hätten wirtschaftliche Lösungen zur Erstellung, Wartung und Weiterentwicklung der Systeme sich bereits rentiert, denn bei den Kostenberechnungen dürfen die Behörden die Stellenkosten für Fachpersonal nicht ausklammern. Zudem bieten viele Unternehmen ihre Lösungen auch international an und können daher Erfahrungswerte aus anderen Nationen einfließen lassen.

Auch sind Eigenentwicklungen oftmals verbunden mit einer verspäteten Verfügbarkeit von Lösungen. Nehmen wir als Beispiel ein Messenger-System für die sichere Kommunikation der Polizei untereinander. Die Länder benötigen die Lösung bereits seit Jahren, P20 beginnt jetzt erst mit Gesprächen, u. a. mit der Bundeswehr, wo der BWMessenger entwickelt wurde.

Welche Rolle spielt die Vernetzung der Behörden untereinander?

Wichtig ist es in diesem Zusammenhang neue Technologien zu erkennen und schnell zu adaptieren. Erste Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hessen haben daher Innovation-Hubs aufgebaut. Um neue Entwicklungen antizipieren zu können, müssen die Hubs ein Ökosystem aus Staat-Wirtschaft und Wissenschaft aufbauen. Kooperationen und der Transfer von Know-how sind zentral für den Erfolg. Hier sollten Ressourcen im besagten Ökosystem noch stärker vernetzt werden.

Das ZITiS, die CODE und die Cyberagentur des Bundes sind bereits sehr gute Ansätze zur akademischen und staatlichen Vernetzung. Die Vernetzung mit den Unternehmen steht oft noch aus. Hier gilt es, Vertrauen herzustellen. Auch Unternehmen können den strengen Sicherheitsanforderungen an IT-Lösungen im Sicherheitsbereich genügen und auch die nötigen Themen kommunizieren, u. a. über die Wirtschaftsverbände. Interessant wird in diesem Zusammenhang auch das anstehende Reallaborgesetz werden.

Auch Beschaffungsprozesse müssen wegen der beschleunigten Innovationszyklen neuer Technologien an Geschwindigkeit gewinnen. Hier muss die Polizei bzw. weitere Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben – BOS – sich einem agilen Mindset anpassen, wie bereits im Aspekt New Work beschrieben.

Wo steht Deutschland dabei auf technologischer Ebene?

Einst war Deutschland bei Technologiethemen weltweit führend. Das Vertrauen der Menschen in Lösungen durch Technik lässt sich in die Gründerzeit des 19. Jahrhundert zurückverfolgen.

Heute ist davon nicht mehr viel übrig. Das liegt einerseits an mangelndem Know-how über die Technologien, aber auch an instrumentalisierten gesellschaftlichen Debatten. Weiterhin ist der Umgang mit neuen Technologien oftmals emotional geprägt.

Nehmen Sie den Bereich von KI in der Polizei. Die politische und gesellschaftliche Debatte ist von Angst geprägt. Das drückt sich in regulativen Ebenen aus, wo KI im Sicherheitsbereich immer als high-risk eingestuft wird. Außerdem wird die Angst medial begleitet, u. a. durch Warnungen KI könne die Menschheit auslöschen, Killerroboter übernehmen das Kommando usw. Das kommt auch aus dem Wort „Künstliche Intelligenz“, was eine bewusste Entscheidung eines Individuums antizipieren lässt. Am Ende sind es einfach Algorithmen.

Auch können solche Warnungen gezielt als Marketing eingesetzt werden, um zu zeigen: „Ich übernehme Verantwortung, keine Sorge, wir haben ihre Ängste verstanden.“ Sie müssen nicht glauben, dass die großen Konzerne, die heute einen Entwicklungsstopp von mindestens sechs Monaten bei KI fordern, damit ernsthaft die Entwicklung selbst stoppen.

Was wir benötigen, ist eine Versachlichung der Debatte. Das betrifft die Kernfragen: Was umfasst diese Technologie, welche Use Cases gibt es dazu, müssen anhand der Use Cases ethische, rechtliche, technische Rahmenbedingungen gesetzt werden und wie muss nun weiterverfahren werden, um die Technologie zu implementieren?

Welche Folgen kann das für Deutschland haben?

Gelingt dies nicht, ist die Handlungsfähigkeit der BOS, aber auch des Wirtschaftsstandortes Deutschland gefährdet. Es gilt sich anzupassen oder gestoppt zu werden, nach dem Motto: „Wer nicht digitalisiert, verliert.“ Dabei muss auch die Bevölkerung involviert werden, u. a. bei der Kommunikation der Chancen und Risiken.

Nehmen Sie ChatGPT. In fast jeder Keynote wird auf die Gefahr dieses Tools hingewiesen. Studierende lernen nicht mehr richtig, Kriminelle können das Tool zum Social Engineering nutzen, ganze Berufe könnten wegfallen. Auf der anderen Seite stellen wir aber auch fest, dass durch den demografischen Wandel immer weniger Leute, immer mehr Aufgaben erledigen sollen.

Der BOS-Bereich beklagt, dass er überlastet sei. Es ist daher zu prüfen, wie neue Technologien zur Entlastung führen können, u. a. durch Automation von Prozessen. Dort, wo ggf. Stellen wegfallen, werden neue Möglichkeiten geschaffen. Das war in den vergangenen Jahrhunderten immer so. Dazu ist jedoch ein digitales Mindset nötig.

Ich plädiere daher darauf, offen und neugierig an technologische Veränderungen ranzugehen und zu hinterfragen, ob unsere Strukturen oder Ausbildungsprozesse noch dazu passen. Anpassung ist ein Merkmal der Menschheit und wir haben die Grenzen der technologischen Machbarkeit noch lange nicht erreicht. Die Bürgerinnen und Bürger haben hohe Ansprüche an die BOS. Will man dort gesellschaftlich akzeptiert werden und auch zukünftig als Arbeitgeber wahrgenommen werden, muss man sich anpassen.

Herr Ursuleac, vielen Dank für das Interview.


[1] Seminare | Bitkom Akademie (bitkom-akademie.de)


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Über Cyforwards:
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